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Jakobsweg
Jesus
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Jakobsweg: (synon. Milchstraße): der westwärts führende von den drei Hauptpilgerwegen der hoch- und spätmittelalterlichen Westkirche. In Resten ist die Pilgerfahrt entlang des ~es bis heute erhalten bzw. wiederbelebt worden.
     Während der östlichste für Pilgerreisen geeignete Punkt, den das byzantinische (d.h. das auf den Konzilien siegreiche, von den byzantinischen Kaisern mit organisatorischem Monopol versehene und finanzierte) Christentum erreichen konnte – und welchen die später von ihm abgespaltene Westkirche erst aus Prestigegründen, dann aus militärischen Gründen beibehielt –, das in der christlichen Mythologie gut verankerte Jerusalem war und auch das Zentrum der späteren Westkirche, Rom, schon früh mit dieser Mythologie verlötet werden konnte (durch einen legendären Romaufenthalt, ja dortigen Märtyrertod des angeblichen Frühchristenführers Petrus), fehlte dem westlichsten Punkt des Verbreitungsgebietes der Westkirche, sobald sich die Grenzen zwischen islamisch und christlich beherrschten Gebieten einigermaßen stabilisiert hatten, also dem spanischen Galizien, jeder noch so dünne Bezug auf das Neue Testament, der eine bedeutende Pilgerschaft hätte rechtfertigen können. Dies erklärt die außergewöhnliche Gezwungenheit der für diese aus psychologisch-militärischen Gründen erforderlich gewordene Pilgerfahrt benötigte Jakobslegende, wodurch die Bewohner aller Gebiete im Zugriffsbereich des (römischen) Katholizismus emotional an Galizien und damit die Verteidigung, später Erweiterung eines christlichen Ost-West-Streifens an der iberischen Nordküste gebunden werden sollten:
     Der hl. Jakob – historisch der überlebende Bruder Jesu, welcher nach dessen Kreuzigung durch die Römer der unbestrittene Führer von dessen Anhängern in Jerusalem geworden war, einer durch übersteigerten Messiasglauben (in der Art des schiitischen »12. Imam«) ausgezeichneten streng jüdischen Sekte, welche von irgendwelchen metaphysischen Wirkungen der Kreuzigung Jesu keine Ahnung hatte bzw. diese nach Aufkommen heftig bestritt – soll nach unbestimmter Zeit sein Grab bei Jerusalem (das heute noch gezeigt wird) verlassen haben, um (als Leichnam) nach Galizien übergesiedelt zu sein. Es existieren über diesen Vorgang mehrere Versionen; eine davon läßt ihn sogar seinen Steinsarg, der wundersamerweise schwimmen konnte, als Boot benutzen, während andre sich mit dem einfachen Reliquientransport begnügen, der allerdings ebenfalls durch Wunder eingeleitet und begleitet wurde; dennoch geschah es in allen Fällen naheliegenderweise ganz unbemerkt und heimlich. (Die autoritivste Version bietet die »Legenda aurea« des hl. Jakobus von Voragine, einem Dominikanermönch und späteren Bischof von Genua, welche im katholischen Mittelalter faktisch als der Bibel gleichrangig galt). Erst viele Jahrhunderte später (nämlich als die Legende nötig geworden und darum fabriziert worden war) wurde ein galizischer Einsiedler auf einen auffälligen Sternschnuppenfall in der Nähe seiner Klause aufmerksam, welcher ihn zu dem bis dahin geheimen Jakobusgrab leitete. Diese Stelle wurde darum »Sternenfeld« genannt (lat. campus stellae, woraus sich »Compostela« entwickelte. Die an dieser Stelle – bald mit größtem Aufwand errichtete – Kirche hieß darum »Santiago [St. Jakob] de Compostela«, ebenso der sich in ihrem Umkreis entwickelnde Pilgerort).
     Die Fabrikation und Verbreitung dieser Legende sowie die nachdrückliche Propagierung und aufwendige Organisation der damit begründeten Pilgerfahrt belegt eindrucksvoll die Entschlossenheit der mittelalterlichen Westkirche, ihren westlichsten Vorposten zu halten und den schmalen von ihr noch beherrschten Küstenstreifen, welcher die Landverbindung zu ihm herstellte, zu verteidigen und nach Möglichkeit als militärische Basis zur Rückeroberung der ihr verlorengegangenen Gebiete zu nutzen, was dann ja auch in den Folgejahrhunderten tatsächlich geschah (»reconquista«). Der kryptomilitärische Charakter des nach Galizien verpflanzten hl. Jakob (bzw. der letztlich militärische Sinn dieser Verpflanzung) kommt durch die sekundäre Legende zum Ausdruck, er habe vorübergehend auch sein neues Grab verlassen und, erkennbar an seinem Heiligenschein, an einem Gefecht gegen die Mauren als berittener Kämpfer auf christlicher Seite teilgenommen und dadurch deren Sieg herbeigeführt, eine in Spanien extrem häufig dargestellte Szene, besonders in emblematischer Verkürzung auf Hausfassaden. Er heißt darum auch »Santiago Matamoros« (= der Mohrentöter). Dadurch nimmt in diesem Teilgebiet des Christentums der hl. Jakob die ökologische Nische des hl. Georg ein, d.h. er verdrängt ihn funktional und kultisch; dabei wird dessen Drache ikonographisch durch einen niedergerittenen »Sarazenen« oder »Mauren« ersetzt.
     Die Organisation der Pilgerfahrten auf dem ~ geschah teils durch Ablaßversprechen und Kirchenstrafen (d.h. die Erzwingung der Teilnahme), teils durch Druck auf die Anwohner des ~es, sich an der Verpflegung der Pilger zu beteiligen, vor allem aber durch die großzügige Errichtung von Pilgerhospizen. Dadurch bildeten sich feste Pilgerrouten aus allen westeuropäischen Ländern nach Spanisch-Galizien, welche in Nordspanien und den angrenzenden Gebieten in Anlehnung an das »Sternenfeld« »Milchstraße« genannt wurden. Die Wirtschaftskraft der in Gang gesetzten Pilgerströme (welche im Mittelalter an die Stelle des späteren Tourismus traten) war so groß, daß die Entwicklung oder der Niedergang vieler Städte mittlerer Größe von ihrer Lage am ~ abhing. Andererseits versuchten zahlreiche falsche »arme Pilger« die für sie gebotene »Mildtätigkeit« auszunutzen, was allmählich kirchliche (bischöfliche) Echtheitszertifikate der Pilger nötig machte. Ebenso entwickelte sich, analog zum tibetischen Klerikalstaat, ein Lohnpilgerwesen, das verhängte Kirchenstrafen gegen Bezahlung stellvertretend übernahm. Da es Vorteile bot, als Jakobspilger erkannt zu werden, entstand eine besondere Jakobspilgertracht, die sich durch einen bestimmten Hut, Mantel (genannt Pelerine), einen langen geraden Stock mit rundem Knauf und eine etwa kreisförmige Flasche auszeichnete. Diese Tracht ging ikonographisch auf den hl. Jakob selber über.
     Da ungefähr an der spanischen Nordküste das Verbreitungsgebiet der auffälligsten europäischen Kammmuschelarten beginnt (Pecten maximus und P. jacobaeus, der Pilgermuschel und der Jakobsmuschel), entstand der Brauch, sich als Jakobspilger deren Deckschale (welche konkav ist) an Hut oder Mantel zu heften; sie konnte somit als Andenken wie auch Abzeichen dienen. – Zahlreiche Jakobspilger (real oder legendär) wurden selber zu Heiligen; der hl. Rochus verdrängte als Pestpatron sogar den hl. Sebastian. Sie sind alle an der Jakobsmuschel erkennbar. Viele im Zusammenhang mit dem ~ beobachtbaren Erscheinungen wiesen zwar bei Rom- und Jerusalempilgern Parallelen auf, aber längst nicht so ausgeprägt. Die Romfahrt war meistens kürzer, die Reise nach Jerusalem wegen der Unsicherheit bis Versperrung des Landwegs und der daraus folgenden Unvermeidlichkeit der Schiffspassage nur für verhältnismäßig wenige erschwinglich. Während aus den Pilgerreisen nach Jerusalem die zwar spektakulären, aber letztlich erfolglosen Kreuzzüge hervorgingen, legte der ~ bzw. dessen nachhaltige Nutzung die Grundlage zur dauerhaften iberischen Reconquista, d.h. der Rechristianisierung der iberischen Halbinsel und der damit verbundenen Entstehung der neuzeitlichen Staaten Spanien und Portugal.
     Da die Jakobslegende aus den angegebenen Gründen frühestens im 9. Jhd. entstehen konnte, jedoch Reliquienkult, -handel und -teilung schon spätestens seit dem 5. Jhd. in Blüte standen, stießen die von Norden kommenden Benutzer des ~es bei Toulouse auf ein schon länger bestehendes Grab oder Teilgrab des hl. Jakob, das sie zwar enttäuschte, das aber der örtliche Klerus, dessen Einkünfte seit alters her von ihm aufgebessert wurden, nicht aufgeben wollte. Man erfand nach sehr langen Streitigkeiten schließlich einen Ausweg, welcher die längst zwar aus anderen Gründen (die Leugnung des Verwandtschaftsgrades zwischen Jesus und Jakob sowie Probleme bei der Jüngerliste) erfolgte Aufspaltung des historischen Jakobus durch die Kirche in zwei namensgleiche Personen nutzte. (Dies war auch nicht einfach, da diese ebenfalls längst verschiedene ältere Kultorte besaßen.) Die Enttäuschung der Pilger bei Toulouse bildet die Grundlage des verbreiteten Spruches: »Das ist nicht der wahre Jakob!« Es ist bemerkenswert, daß der Tolosaner Jakobskult trotz der Lage der Stadt am ~ niemals widerspruchsfrei (z.B. durch eine legendäre Reliquienteilung) in die Jakobspilgerfahrt integriert wurde, offenbar, um eine unverdiente Bevorzugung von Toulouse vor anderen Pilgerstationen des ~es zu vermeiden, aber auch, um einen vorzeitigen und den eigentlichen Sinn der Jakobspilgerschaft unterhöhlenden Abbruch derselben zu verhüten.


 
 
 

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