Heilige(r): (von ahd. heil »Nutzen, Rettung, Vorteil«): Mensch mit übernatürlichen Fähigkeiten im Rahmen einer bestehenden Religion. – ~ gibt es im Buddhismus und allen Fraktionen des Christentums außer den protestantischen. Während der Buddhismus ursprünglich nur Personen als ~ anerkannte, die durch Meditation, welche ausschließlich der Rettung ihrer eigenen Seele aus dem Samsara mittels Erleuchtung dienen sollte, ihre übernatürlichen Kräfte als eine Art Nebenprodukt erworben hatten (sog. Arhats ), erkannte er unter hinduistischem Einfluß auch noch Wundertäter als ~ an, welche ihre übernatürlichen Kräfte nicht ihrem Erleuchtungsstreben, sondern neben der Meditation auch noch Askese und Yogaübungen verdanken, die Siddhis. (Diese Siddhis, 84 an der Zahl, sind aus dem vorzugsweise tamilischen Hinduismus in den Mahayana-Buddhismus eingewandert; man kann ihre Urbilder, die in ihrem Entstehungsgebiet heute noch verehrt und in Tempeln abgebildet werden, als hinduistische ~ bezeichnen. Bei der Buddhisierung wurde ihre Legende oft anti-hinduistisch bzw. pro-buddhistisch verändert.) Eine dritte Sorte mahayana-buddhistischer ~r in der Art des christlichen Jesus (dessen johanneïscher und konziliarer Formung sie das Vorbild lieferten) sind die Boddhisattvas, Personen, die die übermenschliche Existenz-(oder Nichtexistenz)form des »Nirvana« längst beginnen könnten (nämlich mittels endgültiger Erleuchtung), dieses aber aus Mitleid mit den restlichen Menschen (oder Lebewesen überhaupt) unterlassen, um ihnen durch ihre übernatürlichen Fähigkeiten nützen, hauptsächlich aber bei ihrer Erleuchtung helfen zu können bzw. ihr Seelenheil zu fördern. Das ist der Grund, warum sie freiwillig immer wieder als Menschen »inkarnieren«; der Lamaismus kennt Hunderte solcher Inkarnationen (Hutuktus oder Tulkus), von denen die Gelugpa (»Gelbmützen«) den jeweiligen Pantschen Lama sowie Dalai Lama für die weitaus bedeutendsten halten.
     Die Entstehung der christlichen ~n setzt ein Verblassen des Glaubens an das Eintreten oder zumindest an die Funktion des »Jüngsten Gerichts« voraus, welches das NT an vielen Stellen unzweideutig als »Wiederkehr Christi« beschreibt, der bei dieser Gelegenheit »die [sc. zu diesem Zeitpunkt] Lebenden und die [sc. zu diesem, aber erst zu diesem Zeitpunkt wieder lebendig werdenden] Toten richten« werde (cf. das Credo). Nach schon im Talmud vorgeprägten Phantasien sollten bei dieser, aber eben erst bei dieser Gelegenheit Strafen und Belohnungen an Feinde und Anhänger verteilt werden, wobei die ältesten Anhänger (also die standhaft gebliebenen »Jünger Jesu«) an der Urteilsfindung beteiligt werden sollten (»beim Richten helfen«, also offenbar die weniger bedeutenden Fälle kommissarisch abzuurteilen hatten). Nachdem dieses »Jüngste«, d.h. letzte »Gericht«, das die Paulusbriefe verbindlich schon für die erste christliche Generation versprachen, nicht eingetreten und auch dann jahrhundertelang ausgeblieben war (»Parusieverzögerung«), die christliche Organisation dagegen immer größer, fester und einflußreicher wurde, so daß mit einer Selbstauflösung nicht mehr zu rechnen war, entstand im Rahmen der diokletianischen Christenverfolgungen die Phantasie, bei dieser Gelegenheit standhaft gestorbene (und dadurch ihrem mythischen Gründer an wichtiger Stelle ähnlich gewordene) Organisationsmitglieder müßten zur Wiedergewinnung ihrer Handlungsfähigkeit keineswegs das »Jüngste Gericht« abwarten, sondern ihre »Seele«, d.h. ihre vollständige, nur inzwischen körperlos gewordene Persönlichkeit ginge direkt in den »Himmel«, d.h. den Wohnsitz Jahwes und seines mit ihm unklar wieder verschmolzenen Sohnes Jesus ein, wo sie diesen durch Bitten oder Argumente beeinflussen sowie zugleich die irdischen Vorgänge beobachten könne. (Konnte man also einen ~en bzw. eine ~ beeinflussen, was möglicherweise einfacher war als Jahwe selbst, so hatte man – durch Gewinnung dieser »Fürsprache« – einen indirekten Einfluß auf diesen. Als später die Mutter seines sog. Sohnes selber faktisch zur Göttin und gewissermaßen »Frau Jahwe« aufgestiegen und zu einer Art Führerin der Heiligen geworden war, ergaben sich, analog zu realen Herrscherfamilien, weitere Einflußmöglichkeiten.) Bei Gelegenheit des »Martyriums«, d.h. der Hinrichtung als bekennendes Kirchenmitglied, kamen dem Opfer konsularischer oder kaiserlicher Disziplinargewalt nach biblischen (auch apokryphen) Vorlagen öfters Engel zu Hilfe, oft in sehr eindrucksvoller Form; nur gegen Enthauptung blieben sie im grundsätzlichen Gegensatz zu allen anderen Tötungsmethoden stets wirkungslos. Da dies bisweilen und immer öfter (in der christlichen Überlieferung nach der Machtergreifung der Kirche, d.h. lange nach allen Verfolgungen) auf das Gebet der betroffenen ~n hin eintrat, gewann die Vorstellung Raum, dieses bzw. der Wille der ~n bewirke die bei dieser Gelegenheit eintretenden Wunder direkt, zumal von Anfang an nicht nur Strafvereitelungen, sondern auch Heilungswunder (z.B. an Schergen und Henkern, die dann ihrerseits für die Organisation bzw. deren Lehre gewonnen wurden) darunter waren. Mit dem Ende der Verfolgungen versiegte diese bisher einzige ~nquelle; da unter den ~n zahlreiche Funktionäre und Theoretiker bzw. Schriftsteller der inzwischen siegreichen Organisation gewesen waren, wurden die berühmtesten, erfolg- und einflußreichsten davon danach ebenfalls als ~ betrachtet und verehrt, auch wenn sie keines gewaltsamen Todes gestorben waren (also auch als im Besitz übernatürlicher Fähigkeiten betrachtet, welche sie durch ihre »Verdienste« erworben haben sollten. Diese konnten sehr unterschiedlich sein). Umgekehrt versuchten zahlreiche Personen, die nicht dem Apparat angehörten, »die Leiden der Märtyrer nachzuahmen«, d.h. alle möglichen oft lebensgefährlichen Verzichte und Selbstschädigungen demonstrativ und freiwillig auf sich zu nehmen, was notgedrungen Aufmerksamkeit erregen mußte (obwohl dies nicht immer das ausschlaggebende Motiv gewesen sein muß; neurotisches Schuldgefühl, vom Christentum ohnehin gefördert, spielte sicher keine geringere Rolle, und auch eine Art Kompensation für die Flucht aus einer repressiven Gesellschaft, die eine unverstellte, unkompensierte Flucht nicht geduldet hätte, dürfte ein häufiges Motiv gewesen sein). Auch die erfolgreichsten unter diesen »Asketen« ergänzten den stets expandierenden ~nbestand.


 
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