Religion: (wahrscheinlich von lat. religere »sorgfältig bzw. gewohnheitsmäßig beachten«, vielleicht lat. religare »fesseln«): Zusammenhängende Gesamtheit aller gesellschaftlich organisierten bekennend irrationalen Vorstellungen, sofern diese mit dem Postulat neben der Natur existierender Wesenheiten (Personen, Dinge, Räume) verbunden sind.
     Persönliche Vorstellungen gleicher Art, die gesellschaftlicher Unterstützung ermangeln, heißen Aberglauben; sie sind infolgedessen keine Ideologien (was sie aber werden, sobald sie besagte Unterstützung finden). Umgekehrt ist die Religion die einzige Ideologie, welche explizit die Phantasie außernatürlicher Räume bzw. Existenzen zu erzwingen sucht und argumentativ auf sie angewiesen ist; auch andere Ideologien können offen den Vernunftprimat leugnen (z.B. die klassisch rassistisch-faschistische), sind aber durch Verzicht auf den besagten Erzwingungsversuch nicht religiös. Sogar Götter (Gott) können in ~en eine untergeordnete Rolle spielen oder sogar ausfallen, aber die Behauptung außernatürlicher Wesenheiten bleibt unverzichtbar. Ein vollständiges Verständnis der Natur auf der Basis des Hypothesenminimalismus, d.h. des wissenschaftlichen Vorgehens, wird daher niemals den ungeheuchelten Beifall irgendeiner ~ finden; entsprechende Äußerungen ihrer Vertreter sind infolgedessen mit gebührender Vorsicht zu betrachten.
     Weil sie gesellschaftliche Gebilde sind, können ~en ohne Organisation nie lange existieren. Sie bestehen deshalb in der Praxis stets aus den besagten Vorstellungen (Mythologie, »Glaube«) und einem damit verflochtenen System vorgeschriebener Handlungen (Kult, Ritual). Mindestens ein Teil dieses Kultes muß kollektiv stattfinden, um die Suggestionskraft der ~ funktionsfähig zu erhalten; sie ist darum ohne den Verbrauch eines gewissen Anteils des Bruttosozialprodukts für Kult- und evtl. Indoktrinationspersonal nicht lebensfähig. Um zu diesem zu kommen sowie die Teilnahme an den kollektiven Ritualen zu sichern, wendet sie darum sozialen Druck an, bei bestehender Möglichkeit auch Zwang.
     Anders als von Marx vermutet, ist die ~ älter als jede Klassenherrschaft, aber offensichtlich dennoch mit Herrschaft verbunden, nämlich derjenigen von Altersklassen; so offensichtlich bei den Uraustraliern und anderen in geschichtlicher Zeit beobachteten Paläolithikern. Zentrum der ~ und besonders ihrer Vermittlung bilden dabei stets die sog. Initiationsriten, d.h. rituelle, mit Indoktrination verbundene Verstümmelungen der Jugendlichen der jeweils nächsten Generation. Normalerweise enden diese Riten für einen gewissen Prozentsatz der ihnen Unterworfenen tödlich; sie werden in neolithischer Zeit daher häufig durch ein stellvertretendes Menschenopfer der jungen Generation abgelöst, das sich in vielen Sagen (Iphigenie, Isaak) sowie dem Kult »sterbender und wiederauferstehender Götter« (Osiris, Attis, Adonis, Jesus) mit der gleichen Gefühlstönung, die auch vorzüglich zum archaïschen Ursprung paßt, erhalten hat. Der frühe Ursprung der ~ leidet also keinen Zweifel; er wird oft von ihren Apologeten zur Verteidigung ihrer Inhalte, Behauptungen oder auch Existenz angeführt.
     Der Beschreibung und Erforschung der ~ widmet sich die ~swissenschaft; entscheidende Fortschritte im Verständnis der ~ brachten die Forschungen von Marx und besonders Freud, etliche weitere auch Teile der neueren Sozialpsychologie.


 
Ahrimans VolksEnzyklopädie
© By courtesy of Ahriman