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Rune: (von germ. r u n a »Geheimnis«; verwandt mit raunen, d.h. »geheime Sprüche aufsagen«, von da aus die Bedeutung des modernen dt. Wortes »geheimnisvoll und absichtlich undeutlich etwas sagen bzw. murmeln«): Buchstabe einer ausschließlich von Germanen, hauptsächlich Nordgermanen, benutzten Alphabetschrift. – 
     Die ältesten ~n tauchen am Anfang des 2. nach-(!)christlichen Jahrhunderts im Gebiet des heutigen Schleswig-Holstein und im südlichen Dänemark auf, d.h. im Umfeld des Handelshafens Haithabu; dortige Vorläufer reichen bis in die Zeit der ersten römischen Kaiser zurück, scheinen aber noch keinem ~nalphabet anzugehören, sondern nur lateinische Buchstaben zu imitieren. Dem ~nalphabet am ähnlichsten sind aber nicht die lateinischen, sondern die etruskischen Buchstaben, besonders in ihrer nördlichen Form, welche auch zur Aufzeichnung südalpiner Sprachen gedient hat (des mit dem Etruskischen vielleicht verwandten Rätisch, des gallischen Lepontinisch bei Locarno sowie des italischen Venetisch). Dort könnten Germanen erstmals der Alphabetschrift begegnet sein; jedoch klafft gerade in diesem Raum und Zeitraum in ihrem Siedlungsgebiet eine erhebliche Fundlücke. Während bei der Schaffung des glagolitischen, kyrillischen und koptischen Alphabets, das jeweils analoge Probleme wie das ~nalphabet zu meistern hatte, nämlich die Wiedergabe im Lateinischen fehlender Laute, planmäßiges Vorgehen vorlag, dürften sich die ~n eher durch unsystematische Imitation von Aufschriften auf Luxus-Importgütern gebildet haben, was ihre Entstehung an einem zentralen und zugleich dem südlichsten germanischen Seehandelsplatz erklären dürfte. Dabei wurde den Aufschriften offenbar ein magischer Charakter zugeschrieben, der auf ihre Imitationen übertragen wurde. 
     ~n wurden meist mit einfachen Mitteln auf hölzerne Substrate (auch geglättete Vierkantstäbe) geritzt; dies erklärt, warum ihre ältesten Formen niemals Rundungen aufweisen, von ihrem "epigrammatischen", d.h. Aufschriftencharakter haben sie sich niemals befreien können; sie wurden also im Gegensatz zu den ost- und zentralmediterranen Alphabeten niemals (außer sehr spät und unernst im 13. Jhd.) zur Niederschrift längerer Texte benutzt. Das zeigt, daß die sie einsetzende Gesellschaft aus eigener Kraft nie zur Schöpfung einer Schrift imstande gewesen wäre; ihre Nachbarn auf vergleichbarer Kulturstufe übernahmen gewöhnlich nicht einmal den bescheidenen Gebrauch, den die Germanen von den ~n machten. Auch dieser wäre ohne stetes lateinisches und griechisches Vorbild daher wohl wieder abgestorben.
     Dagegen wurde mit den ~n viel »gespielt«; in der Nachfolge ebenfalls geritzter, aber mit Sicherheit phonetisch bedeutungsloser Loszeichen (auf Stäbchen, die ähnlich wie graphisch vergleichbar strukturierte Linien des Yi Jing zu Orakelzwecken eingesetzt wurden) wurde viel in sie hineingeheimnißt; sie er- oder vielmehr: behielten magische Kraft und mystische Bedeutungsbereiche (pro Rune). Ganz im Gegensatz zu Griechen und Nordwestsemiten, aber auch Römern und Etruskern, bei denen allen Buchstabenmystik ein spätes und sekundäres Phänomen ist, erlangte das Alphabet bei den Germanen niemals eine rationale, schließlich auch rationalitätsfördernde Funktion.
     Aus mnemotechnischen Gründen waren nicht nur die Buchstaben der ost- und zentralmediterranen Einzellautschriften in einer festen Reihenfolge geordnet (a-b-c-d- usw., bei den Etruskern meist mit der zweiten Hälfte beginnend: l-m-n- usw.), sondern auch die ~n. Welche Veränderung ihre Anzahl und Lautbedeutung auch durchmachte, stets lautete ihre erste Reihe: f-u-th-a-r-k, weshalb die Runenalphabete alle »Futhark« genannt werden (das ältere Futhark mit 24 [= 3x8], das jüngere mit 16 ~n). Die Schreibrichtung ist dagegen beliebig; oft finden sich, ähnlich wie zwischen etruskischen Silben, Doppelpunkte oder Kreuze als Worttrenner.
     Die alttürkische Alphabet-Schrift, die im 8. Jhd. in der Nordmongolei und in Südsibirien gebräuchlich war, wird wegen ihrer Ähnlichkeit mit den germanischen ~n häufig auch als ~nschrift bezeichnet. Zwar nimmt heute die Mehrheit der Fachleute für sie ein frühma. syrisches Alphabet in Anspruch, das sich über Persien, dann Transoxanien durch manichäische Missionare nordwärts ausgebreitet hat; da aber die Awaren in der späten Völkerwanderungszeit, später auch Chasaren und andere westliche Turkvölker hin und wieder Inschriften verfertigten, die anscheinend germanische ~n nachahmen, könnte tatsächlich über einige Zwischenglieder das germanische ~nvorbild vorliegen, zumal es echte Runeninschriften in alttürkischer Sprache von germanischen Handelsplätzen zu geben scheint. Allerdings ist die Fundlage dürftig und über den alttürkischen ~ngebrauch viel weniger bekannt als über den germanischen.
     Insgesamt bieten die ~n eine vorzügliche Illustration für die fragmentarische Übernahme der Errungenschaften einer höheren Kultur in eine niedere. Während Griechen und Israeliten den Gebrauch des von ihren phönizischen Nachbarn übernommenen Alphabets bald ausbauten und sogar weiter rationalisierten, gelang Germanen ebenso wie Lepontinern und anderen Kleinvölkern, weitgehend sogar den Iberern dieses nicht, weil sie keine Stadtkultur entwickelten; in ihrem magisch gefärbten bis bestimmtem Gebrauch der ~n »spielten sie« sozusagen »mit dem Essen.«


 
 
 

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